Die Darstellung der Corona-Infektionszahlen in Raum und Zeit
In den Medien finden sich zahlreiche Darstellungen der Intensität und der räumlichen Verteilung von Neuinfektionen mit dem SARS-Cov2 Virus, die hier der Einfachheit halber als Corona-Infektionen bezeichnet werden. Mittlerweile haben sich die meisten Darstellungen auf die Darstellung der sogenannten 7-Tages-Inzidenz bezogen auf 100 Tausend Einwohner eingestellt. Die Kumulation über 7 Tage berücksichtigt die starke wöchentliche Saisonalität der Angaben der Gesundheitsämter an das Robert-Koch-Institut (RKI). Der Bezug auf die Einwohnerzahl erzeugt eine regionale Vergleichbarkeit zwischen Gebieten mit hohen und niedrigen Einwohnerzahlen.
Als regionale Bezugseinheit wird bei internationalen Vergleichen Deutschland als Ganzes gewählt. Für Entscheidungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wird meist die Ebene der Bundesländer gewählt. Die niedrigste Ebene, die für die Medien vom zuständigen RKI zur Verfügung gestellt wird, ist die Ebene der Land- und Stadtkreise. Auf dieser Ebene liefert das RKI täglich aktualisierte Darstellungen der aktuellen Infektionslage, vgl. täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19).
Die folgende Darstellung der 7-Tages-Inzidenz auf Kreisebene in Abb. 1 ist typisch für fast alle Medien:
Abbildung 1: Die Kreiskarte aus dem täglichen Lagebericht des RKI vom 3. Oktober 2020
Diese Darstellung des RKI zeigt die regionale Verteilung der Inzidenzzahlen an einem fixen Datum, dem 3. Oktober 2020 am Beginn der zweiten Corona-Infektionswelle in Deutschland.
In vielen Medien sind derartige Kreiskarten interaktiv. Hier liefert eine Mouse-Over-Funktion zusätzliche Informationen über den Namen des jeweils angezeigten Kreises sowie die exakte Inzidenzzahl, die bei der Farbkodierung verloren geht. Auch andere kreisbezogene Informationen, zum Bespiel die Absolutzahl der Neuinfektionen im Kreis, können zusätzlich über die Mouse-Over-Funktion angezeigt werden.
Hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung der Inzidenz wird fast durchgängig eine Darstellung über Linienzüge gewählt. Als Darstellungsebene wird hier meist die Ebene der Bundesländer gewählt, vgl. Abb. 2. Eine Darstellung auf Kreisebene würde in einem Diagramm mit 412 Linienzügen resultieren. Derartige Diagramme sind jedoch nur schwer lesbar und damit auch schwer interpretierbar.
Abbildung 2: Vergleich der zeitlichen Entwicklung der Inzidenzzahlen nach Bundesland. Quelle täglicher Lagebericht des RKI vom 3.Oktober 2020.
Eine echte Darstellung in Raum und Zeit ist prinzipiell über eine Kombination von Kreiskarte mit einem Zeitregler möglich. Allerdings wird diese Darstellung fast nirgendwo in den Medien präsentiert. Eine Ausnahme macht hier die Echtzeitkarte in der ZEIT - die Karte ist im unteren Ende der Darstellung ziemlich versteckt angeordnet. Allerdings ist diese Darstellung wenig geeignet die zeitliche Entwicklung von lokalen Infektionsherden zu verfolgen. Die Darstellung ist sehr instabil, so dass kaum ein visueller Eindruck von räumlichen Clustern entsteht, deren Ausbreitung sich über die Zeit ändert.
Die Ausbreitung des Corona-Virus geschieht in erster Linie über räumliche Nähe, zum Beispiel am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Einkauf, im Restaurant, im öffentlichen Nahverkehr oder bei privaten Treffen. Dies impliziert die Existenz von lokalen Clustern mit erhöhten Inzidenzahlen. Da die getroffenen Eindämmungsmaßnahmen (Lockdown) der Corona-Pandemie darauf abzielten, Ansteckungen auch durch Einschränkungen der regionalen Beweglichkeit (Sperrung von Landkreisen, Urlaubzielen, Schließung von Hotels) zu unterbinden, ist auch mit einer gewissen zeitlichen Stabilität dieser Cluster (Hotspots) zu rechnen. Allerdings fehlte es bisher an einer geeigneten Darstellungstechnik dieser Hotspots.
Aufgrund der Verbreitungseigenschaften des Corona-Virus ist nicht mit harten Sprüngen längs der Kreisgrenzen zu rechnen. Diese Sprünge sind die Konsequenz der Annahme einer einzigen Inzidenzzahl für das gesamte Kreisgebiet. Diese Annahme teilen alle Darstellungen über Kreiskarten. Jedoch sind die vom RKI gemeldeten Infektionszahlen auch mit einer ungleichen Verteilung der Infektionsrisiken im Kreisgebiet kompatibel. Geht man von der Annahme einer glatten Verteilung der Corona-Ansteckungsrisiken über ganz Deutschland aus, so lässt sich diese Verteilung anhand der RKI-Kreiszahlen schätzen. Das Resultat ist eine Kreis-unabhängige glatte Funktion für Deutschland, die die Anzahl der auftretenden Neuinfektionen an einem Ort beschreibt. Diese Infektionsdichte muss nur noch durch einen Schätzer für Bevölkerungsdichte normiert werden. Auf diese Weise erhält man einen lokalen Inzidenzwert. Einzelheiten dieses statistischen Verfahrens findet man in Groß, M.; Kreutzmann, A.-K.; Rendtel, U; Schmid, T.; Tzavidis, N. 2020: Switching between different area systems via simulated geo-coordinates: A case study for student residents in Berlin. Journal of Offcial Statistics, 36, 297--314, http://dx.doi.org/10.2478/JOS-2020-0016.
Diese lokalen Inzidenzwerte kann man wieder auf einer Karte darstellen. Beispielsweise vergleicht Abb. 3 diese alternative Darstellung mit der Kreiskarte des RKI:
Abbildung 3: Vergleich der Corona-Inzidenzen am 3. Oktober 2020. Links: RKI-Kreiskarte, Rechts: Alternative Darstellung über geschätzte lokale Inzidenzwerte. Die unterschiedliche Kolorierung resultiert lediglich aus der Verwendung unterschiedlicher Farbskalen für verschiedene Inzidenzen.
Auffällig ist hierbei ein Hotspot südwestlich von Bremen (Nähe Cloppenburg), der sich über die gesamte zweite Welle als sehr stabil erweisen wird. Diese Region ist durch landwirtschaftliche Großbetriebe mit viel Tierhaltung geprägt. In einer ähnlichen Region im Münsterland war die Großschlachterei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Juli 2020 durch 2100 positiv getestete Beschäftigte aufgefallen. Der hier dargestellte Hotspot deutet auf ein ähnliches Risiko hin.
Weiterhin weisen alle Ballungsräume in Deutschland auf regional erhöhte Inzidenzwerte hin. Besonders deutlich ist die Ausstrahlungswirkung auf das Umland im Fall von Berlin zu sehen. In Nordrhein-Westfahlen sind die separat ausgewiesenen Stadtkreise des Ruhrgebiets zu einem einzigen Infektionsgebiet verschmolzen worden.
Ein weiterer Hotspot zeigt sich in der Oberpfalz nahe der Tschechischen Grenze. Diese Gegend war schon in der ersten Corona-Welle durch teilweise extrem hohe Inzidenzwerte (z.B. der Landkreis Tirschenreuth mit einen Inzidenzwert von 1.470 am 21.4.2020) aufgefallen. Damals wurde vermutet, dass die Ursachen in Super-Spreading-Ereignissen wie dem örtlichen Starkbierfest lagen. Allerdings kann die Ansteckung im Oktober 2020 auch über die zahlreichen Pendler aus Tschechien hereingetragen worden sein. Auch dieser Hotspot wird sich durch die gesamte zweite Welle als sehr stabil erweisen.
Um eine kontinuierliche zeitliche Darstellung der Hotspots zu ermöglichen, wurde diese Karte für ein gleitendes 7-Tagesintervall vom Beginn der zweiten Corona Welle (1. Oktober 2020) bis zum aktuellen Datum berechnet. Diese Sequenz von zeitlich geordneten Karten wurde für eine Web-Präsentation aufbereitet, die im Blogartikel COVID-19: Karte der lokalen 7-Tage-Inzidenz im Zeitverlauf frei zugänglich ist.
Die Darstellung kann über Regler wie ein Video gesteuert werden. Buttons erlauben es, in der Zeit um einen einzelnen Tag vor- und zurückzugehen, um Hotspots besser verfolgen zu können.
Die Karte verfügt über keine Ortsangaben, weil ihre Einblendung die Wahrnehmung der örtlichen Cluster stören wurde. Aus diesem Grund wurde eine Mouse-Over-Funktion benutzt, mit der Orte und ihre zeitlichen Inzidenzprofile dargestellt werden können. Man kann den Mauszeiger über die Karte führen und erhält die Ortsnamen mit Postleitzahl. Durch Klick, zum Beispiel im Zentrum eines dargestellten Hotspots, erhält man dann eine Information über den zeitlichen Verlauf der Inzidenzzahlen an diesem Ort. Abb. 4 zeigt den steil ansteigenden Infektionsverlauf für die Stadt Cloppenburg, der nur langsam abfällt und noch im März 2021 deutlich über der Marke von 100 liegt.
Durch Anklicken eines späteren Zeitpunkts, zum Beispiel des Zeitpunkts mit der höchsten Inzidenz, wechselt die Hintergrundkarte auf die Situation an dem angegebenen Zeitpunkt, vgl. Abb. 5. Man sieht, dass die Stadt Cloppenburg auch noch nach einem Monat in einem der „heißesten“ Inzidenzgebiete Deutschlands liegt. Allerdings hat sich das Niveau der Neuerkrankungen von einem Inzidenzwert 62 auf 420 fast versiebenfacht.
Selbst in der auslaufenden zweiten Infektionswelle bildet die Gegend um Cloppenburg noch einen lokalen Hotspot, vgl. Abb. 6. Diese zeitliche Stabilität der regionalen Hotspots ist bemerkenswert und wird über die bisherigen Darstellungsformen nicht vermittelt.
Abbildung 4: Die zeitliche Entwicklung der lokalen Inzidenz am Hotspot Cloppenburg mit Hintergrundkarte am 3. Oktober 2020.
Abbildung 5: Die zeitliche Entwicklung der lokalen Inzidenz am Hotspot Cloppenburg mit Hintergrundkarte am 7. November 2020.
Abbildung 6: Die zeitliche Entwicklung der lokalen Inzidenz am Hotspot Cloppenburg mit Hintergrundkarte am 27. Februar 2021.
Ebenso gut kann man mit dieser Darstellungstechnik auch „Cold-Spots“ (also Gebiete mit geringer Inzidenz) identifizieren. Hier spielt die Stadt Rostock eine für Deutschland herausragende Rolle. Wie die Abb. 7 zeigt, sind die lokalen Inzidenzwerte während der gesamten zweiten Infektionswelle bis auf geringe Abweichungen unter dem Wert 50 geblieben. Auf dem Höhepunkt der Infektion ist Rostock von Infektionsgebieten mit deutlich höheren Inzidenzen umgeben.
Abbildung 7: Die zeitliche Entwicklung der lokalen Inzidenz am „Cold-Spot“ Rostock mit Hintergrundkarte am 9. Januar 2021.
Daneben zeigen Infektionsgebiete auch ein dynamisches Verhalten: So können separate Hotspots sich in kurzer Zeit vergrößern und auch miteinander verschmelzen. Beispielsweise zeigten sich am 30. Oktober separate Infektionskerne um die Stadt Bautzen, am Rand des Erzgebirges, um Annaberg und nördlich davon in der Stadt Riesa an der Elbe, vgl. Abb. 8. Knapp 2 Wochen später haben sich diese Infektionsherde vereinigt und bilden eine gemeinsames Infektionsgebiet, das nur noch die Großstädte Dresden und Chemnitz ausspart, vgl. Abb. 9. Einen Monat später ist fast der gesamte Freistaat Sachsen ein Corona Hotspot mit einer Inzidenzzahl von 432, vgl. Abb. 10.
Abbildung 8: Die zeitliche Entwicklung der lokalen Inzidenz am Hotspot Bautzen mit Hintergrundkarte am 30. Oktober 2020.
Abbildung 9: Die Vereinigung von drei lokalen Hotspots im Freistaat Sachsen: Bautzen, Annaberg (Erzgebirge) und Riesa. Hintergrundkarte am 12. November 2020.
Abbildung 10: Die Vereinigung von drei lokalen Hotspots im Freistaat Sachsen: Bautzen, Annaberg (Erzgebirge) und Riesa. Hintergrundkarte am 12. Dezember 2020.
Schlussfolgerungen
Mit dem hier beschriebenen Algorithmus lassen sich für Deutschland große Unterschiede bezüglich der Corona-Inzidenzzahlen zeigen. Diese Hotspots können räumlich stabil sein oder sich auch dynamisch ausbreiten. Die Lage und die zeitliche Entwicklung der Hotspots geben Anhaltspunkte für möglich Gründe der Ausbreitung des Corona-Virus. Im Fall von Cloppenburg könnte man nach ähnlichen Ursachen wie bei der Großschlachterei Tönnies forschen. Der Cold-Spot Rostock ist bereits durch seine frühzeitige und konsequente Nutzung von Corona-Tests bekannt geworden. Der Fall Sachsen fallt zunächst durch den Start der Infektionen in unmittelbarer Nähe zur Tschechischen Grenze auf. Da Tschechien im Oktober/November im Landesdurchschnitt Inzidenzen bis zu 800 hatte, könnte hier eine Infektion über Berufspendler stattgefunden haben. Allerdings gibt es auch Berichte über einen deutschen Biertourismus nach Tschechien, das in seinen Lockdown-Regelungen nicht so streng war wie Deutschland. Schließlich gab es auch Vermutungen über eine Assoziation von politischen Präferenzen, die mit einer Ablehnung von Corona-Hygiene-Vorschriften einhergehen und zu einem erhöhten Corona-Ansteckungs-Risiko führen.
Die Identifikation der lokalen Hotspots und ihrer zeitlichen Entwicklung liefert damit wertvolle Hinweise zur Aufdeckung von Verbreitungsrisiken der Corona-Pandemie.
Die Darstellung wird täglich automatisch aktualisiert. Die Karten sind im Internet frei zugänglich. Das benutzte R-Programm Kernelheaping ist ebenfalls frei zugänglich.
Prof. Dr. Ulrich Rendtel (Freie Universität Berlin)
Andreas Neudecker (INWT Statistics GmbH, Berlin)
Lukas Fuchs (Gemeinsamer Berliner Studiengang Statistik)